Eine berufliche Grundbildung verbessert die Chancen auf dem Arbeitsmarkt – auch wenn man sie erst im Erwachsenenalter abschliesst. Doch wie finden Erwachsene einen Beruf, der zu ihnen passt und gleichzeitig gefragt ist? Claudia Walther Jörg arbeitet bei der Berufsberatung des Kantons Bern BIZ und erklärt im Interview, wie sie die Kandidatinnen und Kandidaten des Projekts «2. Chance auf eine 1. Ausbildung» dabei unterstützt, den richtigen Ausbildungsbereich für ihre Zukunft zu finden.
Frau Walther Jörg, welche Rolle haben Sie im Projekt «2. Chance auf eine 1. Ausbildung»?
Ich arbeite bereits seit 19 Jahren als Berufsberaterin beim BIZ. Seit einem Jahr kümmere ich mich zusätzlich um die Teilnehmenden des Erwachsenenbildungsprojekts. Mein Job ist es, ihre Projektbewerbung genau anzuschauen und gemeinsam mit ihnen zu klären, ob das Projekt der richtige Weg zum Berufsabschluss ist und wohin die Reise beruflich gehen könnte. Wir sprechen über Interessen, Fähigkeiten und mögliche Ausbildungen. Zum Prozess gehört zudem eine Abklärung in unserem Testzentrum und eine Besprechung der Testergebnisse. Am Schluss verfasse ich einen Bericht mit einer Empfehlung. Damit können sie sich für einen Platz im Projekt bewerben.
Welche Kriterien müssen zwingen erfüllt sein für eine Aufnahme im Projekt?
Wichtig ist, dass die Person über 25 Jahre alt ist, keine abgeschlossene Grundbildung hat und mindestens das Sprachniveau B1 erreicht. Die vollständigen Aufnahme-Kriterien sind in einer Checkliste aufgeführt. Auch wer einen Abschluss aus dem Ausland hat, der in der Schweiz nicht anerkannt ist, kann sich melden. Wenn alle formalen Aufnahmekriterien erfüllt sind, lade ich die Person nach der Anmeldung zu einem Erstgespräch ins BIZ ein. Im Gespräch kläre ich zusätzlich den beruflichen Werdegang, Motivation, Leistungsfähigkeit und die private Situation ab.
Weshalb spielt die private Situation der Person eine Rolle?
Eine Ausbildung im Erwachsenenalter ist eine grosse Herausforderung. Je nach Lebenssituation oder Verpflichtungen anderen gegenüber ergeben sich mögliche Hindernisse. Werden diese rechtzeitig erkannt, können sie allenfalls umgangen werden. Wenn jemand z. B. Kinder hat, braucht es eine gute Betreuungslösung und die Möglichkeit, in Ruhe Hausaufgaben machen zu können. Ein unterstützendes Umfeld hilft ebenfalls. All das fliesst in meine Einschätzung und Empfehlung mit ein.
Wie unterstützen Sie Interessierte dabei, einen passenden Beruf zu finden?
Viele haben schon eine Vorstellung davon, welche Berufe sie interessieren. Andere wissen noch gar nicht, in welche Richtung sie gehen wollen. Dann schauen wir gemeinsam, welche Interessen und Stärken vorhanden sind und welche Ausbildungen dazu passen. Wichtig ist an dieser Stelle zu erwähnen: Das Projekt unterstützt vor allem Lehrberufe.
Was, wenn ein Ausbildungsweg nicht passt?
Dann suchen wir nach Möglichkeiten. Wenn jemand z. B. Elektroinstallateur werden möchte, aber eine Rot-Grün-Sehschwäche hat, schliesst das diesen Beruf aus. In der Beratung zeigen sich dann aber vielleicht andere Interessen und es kommen Berufe in Frage, an die vorher gar nicht gedacht wurde, z. B. Logistiker. Manchmal ist der Weg über einen Lehrvertrag auch nicht der Richtige, dann beraten wir die Personen zu weiteren möglichen Wegen.
Welche Berufsfelder sind besonders gefragt?
Fachkräftemangel herrscht inzwischen vielerorts, z. B. in den MINT-Berufen – Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik –, in der Pflege sowie in der Gebäudereinigung. Von Erwachsenen werden aber auch gerne Berufe in der Logistik oder der Betreuung gewählt.
Wer hat besonders gute Chancen, eine Erstausbildung im Erwachsenenalter abzuschliessen?
Es sind in der Regel motivierte, mutige Personen, die sich vor dem Lehrbeginn mit möglichen Schwierigkeiten auseinandersetzen und ihr Umfeld in die Ausbildung mit einbeziehen. Auch eine gute Organisation, ein stabiler Durchhaltewille sowie eine gesunde körperliche und physische Verfassung sind von Vorteil.
Was würden Sie jemandem raten, der sich noch unsicher ist, ob er oder sie den Schritt wagen soll?
Anmelden! In der Beratung klären wir gemeinsam, ob das Projekt passt. Wichtig ist, mutig den ersten Schritt zu machen. Wer es versucht, gewinnt oft Klarheit.
Was hat Sie persönlich am meisten beeindruckt an den bisherigen Teilnehmenden?
Viele der Personen im Projekt haben schwierige Erfahrungen gemacht: Lehrabbrüche, Mobbing, persönliche Krisen. Und trotzdem fassen sie neuen Mut und wagen den Schritt in eine bessere Zukunft. Das finde ich sehr beeindruckend. Der Wille, trotz Rückschlägen nicht aufzugeben, verdient grossen Respekt. Und: Eine abgeschlossene Grundbildung lohnt sich immer.